Die Betrachtung der Evangelien als geschichtliche Dokumente hat es möglich gemacht, die Grundlinien der Verkündigung des historischen Jesus zu erkennen. Der ursprüngliche „jesuanische Impuls“ muss dabei aus unterschiedlichen Überlieferungsstufen und redaktionellen Bearbeitungen allerdings erst aufgewiesen werden. – Die katholische Kirche hat die Ergebnisse der neutestamentlichen Exegese seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bekämpft. Das II. Vatikanum hat schließlich zugestanden, dass bei der Auslegung der biblischen Texte die kulturellen und geschichtlichen Bedingungen, die literarischen Gattungen und die Weltsicht der Verfasser berücksichtigt werden müssen (Dei Verbum 11f).
Da aber „kirchenkonforme“ Erkenntnisse der amtlichen Theologie grundsätzlich nicht widersprechen können (!) und die Harmonie der Glaubensaussagen nicht gestört werden darf, bleibt die Grundaussage der neutestamentlichen Wissenschaft weiterhin unbeachtet.
Das theologie- und kirchenkritische Potential, das dann erkennbar wird, wenn man die ursprüngliche Botschaft Jesu mit der Gestalt des Christentums in der Geschichte und in der Gegenwart vergleicht, wird so systematisch wirkungslos gemacht. Es könnte aber gerade einer Erneuerung des Glaubens und der Kirche dienen, wenn man auf die kirchliche Tradition einige der Kriterien anlegen würde, die für den Nachweis der ursprünglichen Botschaft Jesu eingesetzt werden. In Analogie dazu wäre in der Geschichte und Lehre der Kirche zu prüfen:
- * Welche Worte und welche Fakten des Lebens Jesu werden in der Kirche beachtet, auch wenn sie der lieb gewordenen Tradition, dem eigenen Machtwillen, der eigenen Bequemlichkeit und und der eigenen Selbstgewissheit widersprechen – und dies nicht nur in Behauptungen, sondern konkret in der Organisation und im kirchlichen Leben?
- * Was in der Geschichte der Kirche und der Glaubenstradition unterscheidet sich überzeugend von dem, was in anderen Organisationen und Systemen üblich ist? Wo wird ohne Einschränkungen in der Kirche Freiheit und Menschenwürde geachtet, auch wenn sie den eigenen Interessen und Ideologien widersprechen? Wo wird deutlich, dass es nicht um Machterhalt und Selbstbehauptung geht, sondern um selbstlosen Dienst am Wohl aller Menschen?
- * Wo wird das deutlich, was Jesus das „Reich Gottes“ genannt hat, eine „präsentische Eschatologie“, die nicht auf die eigene Kraft, sondern auf die Macht der wehrlosen Zuwendung Gottes setzt, die alles verändert, der man sich vertrauensvoll überlassen kann und die zugleich die Kraft gibt, sich der Gewalt und dem Unrecht zu widersetzen?
Wenn Joseph Ratzinger der historisch-kritische Methode unterstellt, dass sie die Offenbarung behandelt wie einen „auf die Erde gefallenen Meteor, der nun als Gesteinsmasse irgendwo herumliegt, wovon man Gesteinsproben nehmen, ins Labor tragen und dort analysieren kann“ (Aus meinem Leben S.129f), verkennt er bewusst, dass sich aus dieser „Gesteinsmasse“ Funken schlagen lassen, die die traditionellen Kirche von Grund auf herausfordern und doch der Weg zu ihrer Erneuerung wären.