„So muss es gewesen sein als die römische Staatsreligion zusammengebrochen ist“ – diese Aussage eines Pfarrers gibt die Stimmung wieder, die innerhalb der Kirche immer häufiger anzutreffen ist. Und auch wenn diese Einschätzung wohl doch zu drastisch ist: Die katholische Kirche in Deutschland steht vor einem Erosionsprozess, der alle Bereiche des kirchlichen Lebens betrifft. Allein schon im Hinblick auf die Zahl der Mitglieder sagt die Prognose der „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ (KMU 2023) eine Halbierung der „Gläubigen“ bis 2040 voraus (Stand 2022: 20,9 Millionen).
Dass sich der Mitglieder- und Bedeutungsverlust – befeuert u.a. durch den Missbrauchsskandal – derart beschleunigt hat, ist für die Kirche ein heftiger Schock. Und da es keine Anzeichen dafür gibt, dass sich diese Entwicklung stoppen oder gar umkehren ließe, fehlt es nicht an hektischen Reaktionen:
Organisatorisch:
Die Schaffung großer „Seelsorgebereiche“ soll – auch im Hinblick auf knappe finanzielle und personelle Ressourcen – gewährleisten, dass kirchliches Leben zumindest an zentralen Orten und mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten präsent bleibt. – Für die Gemeindemitglieder bedeutet dies einen gravierenden Einschnitt: Aus der „Betreuungskirche“, die vor Ort alle Dienste und Strukturen vorgehalten hat, wird eine „Angebotskirche“: Die Mitglieder müssen selbst entscheiden, an welchem Ort sie welche Angebote annehmen wollen. Diese Notwendigkeit führt im Bestfall zu einer Aktivierung der Initiativen in den neuen „Seelsorgebereichen“, wird aber nicht selten – gerade bei Menschen, die in kirchlichen Gewohnheits- und Autoritätsstrukturen sozialisiert sind – zu einem Gefühl der „Heimatlosigkeit“ und Entfremdung führen.
Strukturell:
Der „Synodale Weg“ versucht, die Kirche in Deutschland durch den Abbau von Diskriminierungen, der Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch, einer Neujustierung des „Amtes“ und einer stärkeren Beteiligung der „Laien“ an Leitungs- und Entscheidungsfunktionen überzeugender und attraktiver zu machen. Von der Mehrheit der Kirchenmitglieder werden diese Bemühungen aber kaum zur Kenntnis genommen. Vielfach erscheinen die Diskussionen und die verabschiedeten Texte als zu speziell; die Reformen sollen schneller und grundlegender umgesetzt werden; es bestehen Zweifel, ob sich überhaupt etwas bewirken lässt oder jede Änderung wird als Abfall vom richtigen Weg gefürchtet und abgelehnt.
Längst geht es aber nicht mehr darum, einen „Gestaltwandel“ geschickt zu moderieren. Vielmehr ist die Kirche – und der Glaube, den sie repräsentiert – ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Und diese Situation zwingt dazu, die offizielle Theologie und das kirchliche Leben einer „Generalrevision“ zu unterziehen, nicht um die Zahl der Mitglieder zu steigern oder wenigstens zu halten, sondern weil es um die Botschaft Jesu geht.
Der Himmelsturz des Satans: Die Botschaft Jesu vom Reich Gottes
Das Wirken Jesu beginnt mit einer Vision: Er sieht den Satan „wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18). Für ihn bedeutet das: In der Sphäre Gottes ist der Satan endgültig besiegt. Das Wichtigste ist bereits geschehen. Gott steht auf der Seite der Menschen und will sein Heil jetzt auch auf der Erde durchsetzen. So wird Jesus zum Botschafter der Basileia, der „Königsherrschaft Gottes“. Wie die endzeitlichen Boten bei Deutero-Jesaja so sieht auch er seinen Auftrag darin, „das Evangelium“ zu bringen, Frieden und Heil zu wirken und „Zion“ zu verkünden: „Dein Gott ist König!“. Und gleichzeitig gilt es, jetzt die Chance zu nutzen und dem „bewaffneten starken Mann“, der jetzt besiegt ist, „alle Waffen wegzunehmen“ und die so gewonnene „Beute“ zu verteilen (vgl Lk 11,21).
Das „Reich Gottes“ wird zum Schlüsselbegriff seiner Verkündigung. Es steht auch für die Erfahrung Jesu, dass der Mensch das Ereignis der Liebe und der von Gott zugesagten Freiheit ist. Jesus will dazu motivieren, im Vertrauen auf die Liebe Gottes das eigene Leben zu wagen und sich weder von Ungerechtigkeit noch von angemaßter Autorität unterdrücken zu lassen.
Theologisch gesehen hat die Rede Jesu von der „Königsherrschaft Gottes“ auch den Sinn, dass Gott auf diese Weise mitten ins Leben gerückt wird und gleichzeitig der Unverfügbare bleibt, der sich jeder theoretischen Festlegung und jeder missbräulichen Inanspruchnahme entzieht. Das Reich Gottes ist eben nicht „hier oder dort“, sondern ereignet sich „mitten unter uns“ (vgl. Lk 17,21). Der Botschaft von der Basileia kommt damit auch für das Sprechen von Gott eine „Platzhalter-Funktion“ zu: Die Rede ist von einem Gott, der sich „ereignet“, der eingesehen und durch seine Wirkung erkannt werden kann, der sich aber nicht als Teil dieser Wirklichkeit festlegen lässt.
Die Geschichte Jesu wurde nach seinem Tod in unterschiedlicher Weise weitergetragen. Verschiedene „Überlieferungsgruppen“ haben die Botschaft und das Lebensschicksal Jesu aus der je eigenen Perspektive gedeutet. Zunächst mündlich tradiert konzentrieren sich erste Sammlungen auf Wundergeschichten, auf Streitgespräche, Gleichnisse, Unterweisungen und auf die Passion. Abhängig von den jeweiligen Standpunkten erscheint Jesus als Prophet, als Messias, als Sohn Gottes, als hellenistischer Wundertäter oder – da sich apokalyptische Strömungen verstärken – als der „Menschensohn“, der vom Himmel herab als Richter wiederkommt und das Ende dieser Welt herbeiführt.
Die Logienquelle Q gilt als erster Versuch, die Lehre Jesu und unterschiedliches Traditionsgut nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu ordnen und das Lebensschicksal Jesu in eine theologische Form zu bringen. Markus, der mit seiner Schrift die Gattung des „Evangeliums“ einführt, hat die Logienquelle wohl nicht gekannt, hat aber teilweise auf die gleichen (mündlichen) Quellen zurückgegriffen. Bei Markus wird es dann besonders deutlich, wie verschiedenartig die Traditionen sind, die ihm vorliegen. Er bindet die unterschiedlichen Vorlagen in seine Evangelienschrift ein und verfolgt dabei auch eigene theologische Interessen. Das ursprüngliche Anliegen Jesu bleibt dadurch zwar erhalten, wird aber durch die Aufnahme unterschiedlicher Quellen und durch die Redaktionsarbeit und eigenständige Komposition des Evangelisten überformt.
1. Das Kreuz mit der Kirche
1.1. Das Kreuz mit der Kirche
Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche hat dazu geführt, dass von einer breiten Mehrheit der Kirchenmitglieder jetzt vehement Reformen der kirchlichen Praxis und der sie begründenden Theologie gefordert werden. Ihnen wird gelegentlich entgegen gehalten, sie würden die Tatsache des Missbrauchs für ihre Zwecke instrumentalisieren: Das Fehlverhalten einzelner dürfe nicht als Argument gegen die Richtigkeit der Lehre und der kirchlichen Ordnung benutzt werden. Verschwiegen wird dabei, dass nicht wenige der Täter nach außen hin – und wahrscheinlich auch in ihrem Selbstbild – eine konservativ-religiöse Haltung zeigten und dass das System der Vertuschung und Verleugnung offensichtlich sehr gut mit traditionell-kirchentreuen Idealen vereinbar war.
Hinzu kommt, dass die Kirche generell in ihrem Handeln oft als autoritär, diskriminierend und ausschließend erlebt wird. Trotz aller Lippenbekenntnisse sind der Ausschluss von den
Sakramenten, die öffentliche Verurteilung „ungeordneter Lebensumstände“ und der unbedenkliche Einsatz von Machtpositionen zur Disziplinierung und Sanktionierung vieler Orts gängige Praxis.
1.1. Was ist Wahrheit?
Das II. Vatikanische Konzil hat sich zum Ziel gesetzt, die Kirche zu erneuern und sie in der „Welt von heute“ ankommen zu lassen. Und tatsächlich sind mit der Erklärung zur Kirche, zur Offenbarung, zu Religionsfreiheit und Ökumene bedeutende Weichenstellungen gelungen. Allerdings wurde auf dem Konzil die Chance vergeben, die kirchliche Lehrtradition insgesamt als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung zu verstehen, die kritisch hinterfragt werden muss. So wie das II. Vatikanum durch viele Zitate die Kontinuität mit dem I. Vatikanischen Konzil betont (das es dennoch in entscheidenden Aspekten korrigiert), so sind viele Texte des II. Vatikanums dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Öffnung für das moderne Denken vollziehen, um dann in letzter Konsequenz in einer Haltung gefangen zu bleiben, die sich mit dem Hinweis auf „überzeitliche Wahrheiten“ und die
„Irrtumsfreiheit“ der kirchlichen Lehre allen Anfragen entzieht.
Um die Irrtumsfreiheit zu begründen, wird – etwa in der Erklärung „Mysterium Ecclesiae“ (1973) – eine Analogie zur Inkarnation hergestellt: „Die Dogmen sollen ja die Menschwerdung Gottes in abbildhafter (analoger) Weise vergegenwärtigen. Deshalb ist auch die dogmatische Wahrheit in einer bestimmten Gestalt endgültig verbindlich“ (Ek 57). Zwar wird eingeräumt, dass die Dogmen geschichtlichen Situationen, Denk- und Sprachgewohnheiten verbunden sind, dass sie weiterentwickelt werden müssen und immer offen sind „in ein grenzenloses Geheimnis hinein“. Aber es gilt auch, dass man „kein einziges Dogma aus dem Ganzen herausbrechen und leugnen kann, ohne die Struktur des Ganzen zu zerstören“ (Ek 58). Grundätzlich ist – nach dieser Auffassung – das „Glaubensgut“, das der Kirche in den Schriften der Bibel und durch die „heilige Überlieferung“ von Gott anvertraut wurde, im Kern der Geschichte entzogen und muss von der Kirche bewahrt, verteidigt und in der amtlichen Lehrverkündigung u.a. in Glaubenssätzen (= Dogmen) verbindlich ausgelegt werden.
Das Postulat, dass die Kirche in zentralen Fragen nicht irren kann – und dies in der Geschichte auch nicht getan hat – stellt nicht nur jede Reform vor beträchtliche Schwierigkeiten, es lässt auch das Verhältnis zur Schuld, die die Kirche in ihrer Geschichte auf sich geladen hat, als doppelbödig und zwiespältig erscheinen. Das „Schuldbekenntnisse“ das Johannes Paul II. im Jahr 2000 abgelegt hat, räumt Unrecht und Versagen „einiger Mitglieder der Kirche“ ein, schließt die Kirche als solche aber aus und verschließt die Augen davor, dass diese Verbrechen durch die jeweils aktuelle „Theologie“ erst ermöglicht wurden.
1.2. „Das Heil der Seelen ist das oberste Gesetz“
Das kirchliche Gesetzbuch (CIC) endet mit dem Grundsatz: „Das Heil der Seelen ist das oberste Gesetz“. Das klingt zunächst so, als würden alle Vorschriften und Gesetze relativiert – und zwar dann, wenn sie dem „Heil der Seelen“ entgegenstehen. Tatsächlich aber handelt es sich dabei um eine Rechtfertigung aller Kirchenstrafen, Sanktionen und Exkommunikationen: Auch wenn sich im Zug der kirchlichen Gerechtigkeit Härte und Zumutungen nicht vermeiden lassen, so geht es doch um das ewige Heil der Seele, die damit die Chance bekommt, doch noch gerettet zu werden …
In den Texten des II. Vatikanums bewegt sich die Auffassung von der Kirche zwischen dem Entwurf einer großen Offenheit und dem – traditionellen – Anspruch einer autoritären Exklusivität. Die „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ (= Lumen Gentium) greift die Vorstellung einer vorchristlichen Kirche auf, die „seit dem Anfang der Welt vorausbedeutet“ wurde und sich mit jedem Schritt der Heilsgeschichte weiter der Vollendung „in Herrlichkeit“ nähert mit dem Ziel „ alle Gerechten von Adam an (…) in der allumfassenden Kirche beim Vater zu vereinen“ (LG 2). Wäre dies noch als „theologische Mediation“ akzeptabel, so wird diese Argumentation dort brisant, wo die „von allem Anfang an bestehende Kirche“ kurzer Hand mit der römisch-katholischen Kirche gleichgesetzt wird. Und es wird betont, dass „jene Menschen nicht gerettet werden, die um die katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht ausharren wollen“ (LG 14).
1.3. Die „historisch-kritische Methode“
Die Zweideutigkeit zwischen der Annäherung an wissenschaftliche Erkenntnisse und der Abwehr von allem, was der lehramtlichen Tradition widerspricht, zeigt sich besonders deutlich in der Stellungnahme zur historisch-kritischen Exegese. War gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon jeder historische Blick auf die biblischen Texte fast schon als Ketzerei verdächtig, so bekennt sich das II. Vatikanum „ohne Bedenken“ zur „Geschichtlichkeit“ der Evangelien (DV 19), räumt verschiedene Traditionsstufen ein und benennt die Reaktionsarbeit der Evangelisten (DV 19). Gleichzeitig wird aber postuliert, dass alles, was die Evangelien von Jesus berichten, im historischen Sinn „wahr und zutreffend“ ist und alles in den Evangelien so verstanden werden muss, dass es keinen Widerspruch zur „Überlieferung der Gesamtkirche“ und zur „Analogie des Glaubens“ gibt. Letztlich gilt „das Urteil der Kirche, deren gottgegebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes
zu bewahren und auszulegen“ (DV 12). – Die Botschaft des historischen Jesus von der bedingungslosen Zuwendung Gottes und dem unbedingt Vorrang der Würde und Freiheit jedes Menschen wird so mit frommen Worten neutralisiert und den Interessen der Kirche untergeordnet.
1.1. „Viele, die drinnen sind, sind draußen und viele die draußen sind, sind drinnen!“
Diese Feststellung, die dem Hl. Augustinus zugeschrieben wird, passt nicht zu einer Situation, die über das Steuerrecht klare Grenzen zwischen „innen“ und „außen“ zieht. Dabei ist ein Austritt aus der
Kirche theologisch betrachtet überhaupt nicht möglich. In Deutschland, Österreich und der Schweiz kann ich vor den Behörden erklären, dass ich nicht mehr zur Kirche als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ und damit zur Gemeinschaft der Kirchensteuerzahler gehören will. Mitglied der Kirche bleibe ich durch die Taufe dennoch; und nur weil die Kirche meine Entscheidung als öffentliche Lossagung interpretiert, folgt der Ausschluss vom Empfang der Sakramente; auch ein kirchliches Begräbnis ist nur
noch in Ausnahmefällen möglich.