„Jesus verkündete das Reich Gottes – gekommen ist die Kirche“

Auf den ersten Blick erscheint das Zitat von Alfred Loisy (1857-1940) beinahe zynisch. Seine Absicht war aber eine ganz andere. Er wollte der kirchlichen Hierarchie seiner Zeit, die von den Ergebnissen der historisch-kritischen Exegese aufgeschreckt war, signalisieren: Es gibt einen Weg, der vom „historischen Jesus“ zum „Christus des Glaubens“ und damit auch zu kirchlichen Strukturen führt – und diesen Weg stellt die ursprüngliche Botschaft von der Gottesherrschaft dar.

Sein Versuch, historische Bibelwissenschaft mit der Glaubensverkündigung des Lehramtes zu versöhnen, trug ihm 1908 die Exkommunikation ein. Und auch wenn das II. Vatikanum schließlich erklärt, dass Gott in der Heiligen Schrift „durch Menschen nach Menschenart“ gesprochen hat und die „wissenschaftliche Vorarbeit“ der Exegese anerkennt (vgl. Dei Verbum 12), so werden die daraus gewonnenen Erkenntnisse als „theologischer Ort“  bis heute nicht ausreichend gewürdigt.

Schon die Besonderheit der Evangelien, die unterschiedliche Quellen und Traditionsstufen, redaktionelle Deutungen und Aussageabsichten verbinden, zeigt: Der ursprüngliche „jesuanische Impuls“ wird in einer Vielfalt von Glaubenszeugnissen weitergetragen. Die Autoren fühlen sich der Tradition verpflichtet, sehen sich aber auch dazu ermächtigt, das Traditionsgut weiter zu entwickeln und im Hinblick auf die Situation ihrer Gemeinde auszulegen.

Die exegetische Auseinandersetzung mit diesem Prozess der Überlieferung hat theologisches Gewicht. Sie macht ernst damit, dass die Evangelien als „Gottes Wort im Menschenwort“ den Zugang zur Offenbarung ermöglichen; sie leitet aber auch dazu an, sich anhand des Glaubenszeugnisses der neutestamentlichen Autoren immer wieder auf die Suche nach dem jesuanischen Ursprung zu machen und aus diesem Impuls heraus zu eigenen Erfahrungen mit der Botschaft Jesu zu kommen.

Der Rede vom „Reich Gottes“ kommt bei dieser Suche nach der jesuanischen Grundbotschaft eine Schlüsselrolle zu. Für Jesus bedeutet der Anbruch der „Königsherrschaft Gottes“, dass das Ende dieser Weltzeit, die Zukunft Gottes schon jetzt beginnt. Jeder Augenblick enthält schon alles, worauf es endgültig ankommt – Exegeten sprechen von „präsentischer Eschatologie“ und rechnen sie zu den Merkmalen, die die Botschaft des historischen Jesus charakterisieren. Für Jesus ist mit dem Anbruch der Gottesherrschaft auch die Zusage unverdienter Gnade verbunden. Und weil auch diese Zusage immer schon „Jetzt“ gilt, verlieren alle Regeln und Vorschriften ihren Sinn,  die die Zuwendung Gottes abhängig machen von der Erfüllung von Gesetzen und dem Nachweis religiöser Leistungen. Gerade für die Frommen und Gerechten ist das eine unerträgliche Provokation. Die wütende Ablehnung, die Jesus bei ihnen hervorruft, wird noch dadurch gesteigert, dass Jesus aus dem Bewusstsein einer besonderen Gottesnähe handelt und für sein Wirken die Autorität Gottes in Anspruch nimmt.