Die Seligpreisungen

Die Botschaft Jesu vom Reich Gottes ist eine ständige Provokation: Sie rüttelt an allen Selbstverständlichkeiten, sie stellt Denkgewohnheiten und bequeme Überzeugungen in Frage und konfrontiert mit einem Gott, der immer wieder neu entdeckt werden muss. Schon die Verfasser der Evangelien haben manche Aussagen aus der Tradition nicht mehr verstanden oder bewusst uminterpretiert und sie für ihre Adressaten umgeformt … Gerade solche Überarbeitung weisen auf die ursprüngliche Brisanz hin und bieten die Chance, der ursprünglichen Botschaft Jesu wieder auf die Spur zu kommen.

Die Textfassung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dem historischen Jesus zuzuordnen ist, hat die Form:

Selig die Armen, denn ihnen gehört das Reich Gottes!
Selig die Hungernden, denn sie werden satt werden!
Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden!

Die Änderungen, die Matthäus und Lukas am ursprünglichen Text vornehmen, stehen beispielhaft für die „Auswege“, die „Frömmigkeit“ und „Theologie“ gerne nutzen:

* Spiritualisierung

Die Armut der Menschen, denen nur noch das Betteln bleibt, wird von Matthäus als Ausdruck einer besonderen Gottesnähe und als Beweis einer achtenswerten Spiritualität bewertet. „Arm-Sein vor Gott“ wird – auch im Anschluss an alttestamentliche Vorstellungen – als Lebenshaltung gesehen, die sich ganz auf Gott verlässt und allein aus dem Vertrauen auf Gott lebt.

* Stärkung der Gruppenidentität

„Selig ihr Armen“ – Lukas, in dessen Gemeinde der Gegensatz von reichen und armen Mitgliedern ein ständiges Thema ist, benutzt die Seligpreisung, um den Zusammenhalt der Gruppe zu festigen: Er erinnert die „Armen“ daran, welches Glück es ist für sie ist, zur Gemeinde zu gehören; und er ermahnt die Reichen, sich der Armen in der Gemeinde anzunehmen, weil sie von Gott bevorzugt und der „Prüfstein“ für das Reich Gottes sind.

In der ursprünglichen Form der Seligpreisungen richtet sich Jesus aber gerade nicht an die Betroffenen oder an seine Jünger:  Für die Reichen, Satten und Zufriedenen wird Gott als der verkündet, der ohne Vorbedingungen und Einschränkungen auf der Seite der Armen, Hungernden und Trauernden steht.

Für die „Armen“ bedeutet dies: Eure Not hätte ein Ende, wenn sich alle an dem orientieren würden, was dem Willen Gottes,entspricht. Armut ist keine göttliche „Auszeichnung“, aber auch keine Strafe, sondern eine Folge von ungerechten Strukturen und dem Versagen der Mitmenschlichkeit.

Den „Reichen“ soll bewusst werden, dass sich Gott nicht durch fromme Gelehrsamkeit, Gesetzestreue und Rituale manipulieren lässt. Der Gott, dessen Wahrheit sich in der Basileia ereignet, lässt sich nicht „in den Griff bekommen“. Er bindet sich und die Menschen an konkrete Situationen. Ob der Augenblick mit der Basileia „zu tun hat“, entscheidet sich jeweils im Augenblick. Es kommt darauf an, sich irritieren und herausrufen zu lassen
– durch die Not des anderen, aber auch durch jede Begegnung und durch jede Erfahrung, die mir deutlich macht, dass mein Leben nicht für sich allein steht.

Auch für die Theologie ergibt sich daraus eine paradoxe Situation: Jede Aussage über Gott, die ihn beschreibt, festlegt und abgrenzt verwendet schon eine Sprache, die der Basileia widerspricht. So müsste die theologische Rede ein Sprechen sein, das „Raum schafft“, und Platz lässt … in der Art, wie Jesus von Gott redet, entsteht immer diese „Lücke“, die die Zuhörer dazu motiviert, das Fehlende zu ergänzen, die Einsicht zuzulassen und den „Sprung“ zu riskieren, der die Wirklichkeit Gottes erahnen lässt.