Für Jesus ist jeder Mensch getragen von der Liebe Gottes und durch sie zu einem freien und solidarischen Leben berufen: Je freier Menschen leben können und je entschiedener sie füreinander einstehen, desto „konkreter“ wird diese Wirklichkeit und desto näher ist die Basileia. Die „Gottesherrschaft“ ist der Augenblick, in dem die Welt so erscheint, wie sie von Gott gedacht ist.
Der Mensch, der mir als „Feind“ begegnet, wird daher zum Ernstfall der Gottesherrschaft: Jesus plädiert dafür, auch den Feind als „Potential“ der Wirklichkeit Gottes zu sehen. Das Verhalten ihm gegenüber soll nicht von seiner Aggression, sondern davon bestimmt sein, wie sein Verhältnis zu uns unter den Bedingungen der Basileia wäre.
Ursprünglich ist damit kein Gebot und keine Handlungsanweisung verbunden. Die Aufforderung den Feind „zu lieben“ passt vielmehr sehr gut zu der von Jesus bevorzugten paradoxen Redeweise, die die aktuelle Situation mit der Ansage der Gottesherrschaft in Kontrast bringt und diese – zumindest potentiell – verändern kann.
Aus dem Anliegen Jesu leitet die Logienquelle ein Programm des „passiven Widerstandes“ ab: Der Gewalt der römischen Besatzungsmacht mit demonstrativer Wehrlosigkeit begegnen, dem, der mit den Mantel raubt, auch noch den Rock anbieten, den erzwungenen Frondienst freiwillig übererfüllen – das ist eine gefährliche Strategie; aber da das Ende der Welt jeden Augenblick hereinbrechen wird, hält sich das Risiko in Grenzen.
Matthäus muss sich nach dem jüdischen Krieg mit dem neu konstituierten Judentum auseinandersetzen. Am „Gebot“ der Feindesliebe zeigt er auf, dass Jesus als „messianischer Lehrer“ das spätjüdische Gesetz „überbietet“: Die Liebe, die dem „Nächsten“ geschuldet ist, wird auf den „Feind“ ausgeweitet und generalisiert.
Und Lukas hält seiner Stadtgemeinde die Feindesliebe als Modell des christlichen Sozialverhaltens vor: Er verallgemeinert die Situationen– bis hin zum Verhalten beim Geld-leihen – typisiert die Beispiele und erweitert die hellenistische Gegenseitigkeitsethik, um die Aufforderung selbstloser Wohltätigkeit.
Der ursprüngliche Impuls, den Jesus mit dem Verweis auf die schon jetzt präsente Gottesherrschaft gesetzt hat, wird in der Logienquelle zum politischen Handlungsprogramm, bei Matthäus zum Anreiz für eine ethische Hochleistung und bei Lukas zu einem Rezept für ein gerechteres Miteinander. Bleibt die Frage: Wie gehen wir mit unseren „Feinden“ um?