In der Süddeutschen Zeitung vom 2./3. März 2019 erzählt Sandra Roth vom Leben mit ihrem Sohn Ben und ihrer Tochter Lotta, die mit einer schweren Behinderung geboren wurde. Wie beide Wege finden, um miteinander zu kommunizieren, und wie sie immer wieder dankbar das Leben gemeinsam feiern, hat mich sehr berührt und lässt mich bei all dem Mut, bei aller Lebensbejahung und Liebe an die Botschaft Jesu denken.
Lotta schreit oder schweigt in dieser Zeit, sie brabbelt nicht wie andere Babys. „Hören Sie nicht auf, mit ihr zu reden“, sagt uns ein Arzt. „Auch wenn Sie Jahre auf Antwort warten müssen“. Wird sie ihr Leben lang schreien, und wir müssen raten, was sie hat, fragen wir uns in dieser ersten Zeit. Wir verhandeln mit dem Schicksal: Aufs Laufen können wir verzichten, sie muss auch nicht sehen, aber lass uns das Verstehen, flehe ich. Gib mir Worte und Plappern, gib mir „Mama“. Gib mir nur ein Wort. (…)
Ich erfahre schnell, dass es auch andere Arten zu antworten gibt als Worte. Wir lernen Lotta zu lesen. Ihre Atmung sagt „es kommt ein Anfall“, ihre Körperspannung „noch mal knuddeln“, ihr Lächeln sagt „Ben“. Ich füttere sie auf meinem Schoß, ihr Rücken ruht auf meinem linken Arm, ich führe den Löffel zu ihrem Mund, und sie öffnet ihn, obwohl sie ihn nicht sehen kann. Wie zwei Tänzer, die sich in den Armen liegen, reden wir, ohne unsere Lippen zu bewegen.
(…)Damals , als ich mit dem Schicksal verhandelte, wusste ich nicht, dass ich um das Falsche feilschte. Was wir können, definiert nicht, wer wir sind. Lotta ist so viel mehr als die Summe dessen, was sie kann oder nicht kann, genau wie ich nicht ich bin, weil ich sprechen oder laufen kann. Lotta lacht laut und schadenfroh, wenn mir ein Becher runterfällt, sie liebt Musik von Bach und die Kinder von Bullerbü, sie wickelt jeden um den Finger, nur mit ihren Grübchen. Zwei Kinder, die atmen und nachts rote Wangen haben im Schlaf – das klingt selbstverständlich, aber das ist es nicht. Heute danke ich dem Schicksal.