Ist die Kirche noch zu retten?

Der historische Jesus und die Glaubenskrise


4. Eine Dogmatik der Freiheit?

Im Vorfeld des II. Vatikanums hat Joseph Ratzinger ein Konzept vorgelegt, das eine große Offenheit im Umgang mit der kirchlichen Tradition ermöglichen,  aber auch für eine Ausweitung der lehramtlichen Autorität genutzt werden kann. Seine Argumentation geht davon aus, dass die Offenbarung kein abgeschlossener Vorgang ist, sondern sich immer wieder neu ereignet. Gott teilt sich dem Menschen jeweils neu mit und wenn der Mensch sich für diese Mitteilung öffnet, ereignet sich Offenbarung. Dieser Prozess vollzieht sich präsentisch und ist auf die Zukunft hin offen. Die Kirche darf daher nicht nur an den Formeln der Vergangenheit festhalten. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, im Heiligen Geist, der in ihr wirksam ist, ständig darum zu ringen, wie sich die „Begegnung mit Gott in der Kirche und durch die Kirche adäquat verbalisieren lässt“. Schrift und Tradition sind nicht selbst die Offenbarung, sondern deren Bezugsrahmen. Und wie die Schrift aus der Perspektive der kirchlichen Lehre zu lesen ist, so darf es die kirchliche Lehre nicht ignorieren, wenn sich das Verständnis der Schrift ändert. 

Dieser Ansatz könnte tatsächlich die kirchliche Dogmatik verändern. Die Kirche lebt dann nicht aus einer vorgegebenen Ordnungs- und Autoritätsstruktur, sondern aus der Glaubenskompetenz jedes einzelnen. Der „Glaubenssinn der Gläubigen“ darf dann nicht mehr einfach mit der lehramtlichen Linie in eines gesetzt werden, sondern wird als Anfrage, Herausforderung und Veränderungsimpuls ernst genommen. Und nicht zuletzt kann die Botschaft des historischen Jesus wieder ihre ursprüngliche Brisanz entfalten.

In der Folge wurde aber dieses Konzept dafür verwendet,  die lehramtliche Autorität über die bisherigen Definitionen hinaus auszuweiten: Im Unterschied zum Dogmenverständnis der beiden vatikanischen Konzilien fällt – laut KKK – nun in die Deutungshoheit der Kirche nicht nur das, was  „in Schrift und Überlieferung“ enthalten ist, sondern darüber hinaus auch  „solche Wahrheiten“, die mit der göttlichen Offenbarung „in einem notwendigen Zusammenhang stehen“ (KKK 88). Den „notwendigen Zusammenhang“ ermittelt die Kirche „im lebendigen Ringen“ und legt diese Wahrheiten – auch wenn sie nicht „in Schrift und Überlieferung“ enthalten sind – dem christliche Volk zu einer „unwiderruflichen Glaubenszustimmung“ verpflichtend vor (1).

Aber auch wenn diese Überlegungen im KKK weider der Sicherung und Verteidigung kirchlicher Lehrautorität dienen, so sprechen die vorgebrachten Argumente doch viel stärker für eine Kirche, die nicht zwanghaft an sich selbst festhält, sondern sich der Zukunft Gottes anvertraut. Ratzingers Entwirf hat tatsächlich das Potential, der Dogmatik ihren „Zwangscharakter“ zu nehmen, den Ton der Anordnungen und Verurteilungen abzulegen und auf die Offenbarung zu hören, die sich dannn ereignet, wenn sich der einzelne dem Anruf Gottes öffnet.

(1) vgl. Michael Seewald, Dogma im Wandel, Freiburg 2018, S. 247ff

3. „Es ist fest zu glauben, dass …“

Schon bei seinem Erscheinen war der  „Katechismus der Katholischen Kirche“ ein fragwürdiges Projekt: Die verbindliche katholische Lehre sollte in einer allgemein gültigen Form zusammengefasst und – da durch die Approbation zum „ordentlichen Lehramt“ gehörend – den Gläubigen mit der Pflicht zu „religiösem Gehorsam des Willens und des Verstandes“ (263) vorgelegt werden. Da formal für den Unterricht und zur Unterweisung gedacht, schwankt die Tonlage zwischen der Redeweise eines allwissenden Erzählens, einer gütigen Ermahnung und der autoritären Haltung strengen Belehrens.

Die undifferenzierten Verweise auf Bibelstellen, Kirchenväter und lehramtliche Dokumente
macht den „KKK“ zu einem Sammelwerk  dogmengeschichtlich bedeutender Zitate – und relativiert dadurch die Bedeutung biblischer Texte, die geschichtliche Einordnung dogmatischer Aussagen und die neuen Akzente, die das II. Vatikanum gesetzt hat.

Mit diesen Strategien wird der Dialog mit der wissenschaftlichen Theologie und die
Auseinandersetzung mit den Fragen der Gegenwart verweigert und stattdessen der
Anspruch des kirchlichen Lehramtes bekräftigt, nicht nur für fundamentale Glaubenswahrheiten, sondern für jedes Details der Glaubens- und Sittenlehre festzulegen,  was „zu glauben ist“.


Dabei dienen gerade die Aussagen der Kirchenväter dazu, manche „Zugeständnisse“
wieder zu relativieren. So wird etwa – mit Bezug auf DV – eingeräumt, dass für das richtige Verständnis der biblischen Texte die „Verhältnisse ihrer Zeit und Kultur“ und „ die zu der betreffenden Zeitüblichen literarischen Gattungen und die damals geläufigen Denk-, Sprech- und Erzählformen zu berücksichtigen“ sind (65). Mehr Platz nimmt aber die Ermahnungen zur Sorgfalt ein, zu einer Auslegung „in der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche“ und zur Berücksichtigung der „Analogie des Glaubens“ (S.66) – und mit einem Augustinus-Zitat werden dann die Grenzen der biblischen Exegese klar gemacht:   „Ich würde selbst dem Evangelium keinen Glauben schenken, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewöge“ (Aug, fund.5,6)   S. 67

Ganz allgemein nimmt die Lehre von der Kirche breiten Raum ein. Hier gibt ein Zitat aus
dem „Hirten des Hermas“ die Richtung vor: „Die Welt wurde auf die Kirche hin erschaffen“
(229). Die Kirche hat ihren Ursprung im „Ratschluss der heiligsten Dreifaltigkeit“. Und im Anschluss an LG2 wird ausgeführt, dass sie vorausgestaltet wurde seit dem Ursprung der Welt, vorbereitet in der Geschichte Israels, in den letzten Zeiten gegründet, durch die Ausgießung des Geistes offenbart und vollendet wird in Herrlichkeit am Ende der Zeiten. Wäre dies als „theologische Mediation“ noch akzeptabel, so wird diese Argumentation dann brisant, wenn die „von allem Anfang bestehende Kirche“ kurzer Hand mit der römisch-katholischen Kirche gleichgesetzt wird und daraus absolute heilsnotwendige, hierarchische und rechtliche Folgerungen gezogen werden.

2. Die Lehre der Kirche und die „Tradition“ der Gewalt


Es galt als historisches Ereignis: Im März des „Heiligen Jahres 2000“ bittet Johannes Paul II. um Vergebung dafür, dass „Menschen in der Kirche“ schuldig geworden sind.

Vorausgegangen waren kontroverse Diskussionen: Wie kann die Kirche um Vergebung bitten, ohne ihren Wahrheitsanspruch in Frage zu stellen und ihr moralisches Gewicht zu gefährden? Eine internationale Theologenkommission hat daraufhin ein 40-seitigen Grundsatzpapier („Erinnern und Versöhnen“) erstellt und festgelegt, warum und in welcher Form die Kirche um Vergebung für vergangene Verfehlungen bitten kann. Schließlich gab auch Kardinal Ratzinger seine Zustimmung: Es gehe nicht um ein „Tribunal über die Sünden der Vergangenheit“, sondern um Bekehrung für die heutigen Christen. Dabei müsse neben der „objektiven Schuld auch das viele Gute gesehen werden, das Gott durch die Kirche in 2.000 Jahren gewirkt hat“.

Die „Schuldbekenntnisse“ sind dann auch zwiespältig genug ausgefallen. So lautet das „Bekenntnis zur Schuld im Dienst der Wahrheit“, das sinnigerweise Joseph Ratzinger vorgetragen hat: „Lass jeden von uns zur Einsicht gelangen, dass auch Menschen der Kirche im Namen des Glaubens und der Moral in ihrem notwendigen Einsatz zum Schutz der Wahrheit mitunter auf Methoden zurückgegriffen haben, die dem Evangelium nicht entsprechen“.

Diese fast schon dreiste Verharmlosung setzt sich bedenkenlos darüber hinweg, dass zur Geschichte des Christentums auch eine Tradition der Intoleranz und der Gewalt gehört – und dass die Ursache hierfür nicht nur in der Schuld einiger „Menschen der Kirche“ liegt, sondern in einer lehramtlichen „Theologie“, die solches Handeln begründet und legitimiert hat. Während sich die „Methoden“ zum „Schutz der Wahrheit“ geändert haben, bestehen die dogmatischen Grundlagen – wenn man sie aus der traditionellen Perspektive betrachtet – nach wie vor weiter.

Einleitung

Ist die Kirche noch zu retten?
Der historische Jesus und die Glaubenskrise

Im Frühjahr 1993 erschien „weltweit“ der von Johannes Paul II. approbierte
„Katechismus der katholischen Kirche“. In konzentrierter Form soll er alles
zusammenfassen, was zur „sicheren Norm des Glaubens“ gehört.

Ganz abgesehen davon, dass der „Weltkatechismus“ in Form, Sprache und Anspruch die relative Offenheit der Theologie nach dem II. Vatikanischen Konzil faktisch widerruft, so geht es darin zentral um die Kirche als dem Mittelpunkt der Glaubens- und Sittenlehre … Der historische Jesus wird dabei völlig ausgeblendet und ignoriert, obwohl die Bibelwissenschaft schon im 19. Jahrhundert gezeigt hat, dass sich die geschichtliche Situation seines Wirkens und die Grundzüge seiner Botschaft aus den Evangelien sehr konkret erschließen lassen. – Die Begründung lautet: „vieles, was menschliche Wissbegierde von Jesus erfahren möchte“ findet sich in den Evangelien nicht (161ff) und ohnehin sei das gesamte Leben Jesu ein „Mysterium“.

Wenn die „Menschwerdung Gottes“ theologisch ernst genommen werden soll, dann darf die geschichtliche Existenz Jesu nicht übergangen werden. Den „Christus des Glaubens“ kann es nicht ohne den „historischen Jesus“ geben – und er darf auch nicht mit dem Verweis auf sein „Mysterium“ faktisch als „Vorstufe“ der späteren Glaubenslehre abgetan werden.
Mit gleichem Recht gehört auch der Entstehungsprozess der neutestamentlichen Schriften, der das Leben und Sterben Jesu auf verschiedenen Traditionsstufen, in vielfältigen Deutungsmustern  und mit unterschiedlichen Akzenten formuliert, zur „Überlieferung“ des christlichen Glaubens und hat theologische Bedeutung.

Vor allem seit dem 19. Jahrhundert leidet die Glaubwürdigkeit der Kirche daran, dass die Geschichtlichkeit des Christentums nur in der Weise wahrgenommen werden darf, dass dadurch die „herrschende Dogmatik“ verteidigt und die bestehenden Strukturen stabilisiert werden. Dabei käme es gerade jetzt darauf an, das „geschlossene System“ einer Weltanschauung, die alles weiß und alles erklärt und allzu oft den Eindruck erweckt, nur um sich selbst besorgt zu sein, von der Botschaft Jesu „sprengen“ zu lassen. Der ursprünglichen Botschaft Jesu geht es nicht um Glaubensformeln und abstrakte Wahrheiten, sondern um einen Gott, der bedingungslos auf der Seite der Menschen steht, und der durch seine voraussetzungslose Liebe den Maßstab dafür bietet, wie Menschen einander begegnen sollen.