Exegetische Grundlagen

Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18)

Über die Grundaussagen einer historisch-kritischen Betrachtung der Evangelien herrscht bei den Exegeten weitgehend Einigkeit. Soll aber die ursprüngliche Botschaft des Jesus von Nazareth beschrieben werden, gehen – wenn überhaupt der Versuch unternommen wird – die Meinungen auseinander. Konsens besteht allenfalls darin, dass dem „Reich Gottes“ als Schlüsselbegriff dabei die entscheidende Rolle zukommt. Hier wird der historisch-kritische Befund in Grundzügen skizziert und am Beispiel der Gleichnisse danach gefragt, welche Rückschlüsse sich daraus auf den besonderen Charakter der Reich-Gottes-Botschaft Jesu ergeben.

Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese

Die Texte der Evangelien bieten starke Indizien dafür, dass Jesus ursprünglich im Umkreis des Täufers zu finden war. Er hat sich von Johannes taufen lassen und sich so zu seiner Botschaft bekannt.  Die Kernaussagen des Täufers waren: Gottes Zorn ist nicht mehr aufzuhalten, sein Gericht steht unmittelbar bevor; durch den, der „mit Feuer tauft“, wird Gott Ordnung schaffen, ohne Rücksicht auf religiöse Gewissheiten und Verdienste; es bleibt nur, sich durch Selbstaufgabe und strenge Askese dem Gericht zu unterwerfen, um vielleicht doch noch – völlig unverdient – Gnade zu finden.

Die Botschaft, mit der Jesus dann sein Wirken beginnt, könnte dazu nicht gegensätzlicher sein. Auch er hält daran fest, dass jetzt die Zeit der Entscheidung ist; und auch nach seiner Überzeugung stehen radikale Veränderungen an.  Aber er begründet dies nicht mit dem Zorn Gottes, sondern damit, dass Gott das Heil für die Menschen will und dass jetzt die Zeit gekommen ist, in der Gott seinen Heilswillen durchsetzen wird.

Als Auslöser für diese geänderte Position liefert wohl die Vision Jesu vom „Himmelssturz des Satans“(Lk 10, 18) eine Erklärung: Der Satan fällt wie ein Blitz vom Himmel, seine Macht ist in der  Sphäre des Himmels bereits gebrochen. Dort hat Gott bereits gesiegt. Auf der Erde wird Gott jetzt sein Reich errichten und den Sieg über den Satan vollenden.

Wenn Jesus später „mit dem Finger Gottes“ Dämonen austreibt (vgl. Lk 11,18), dann ist das für ihn der Beleg dafür, dass der Satan im Grunde schon besiegt ist und „ein Stärkerer“ ihm „alle seine Waffen“ wegnimmt und „die Beute verteilt“ (vgl. Lk 11,22).

Für die synoptischen Evangelien schließt die Programmatik des Wirkens Jesu direkt an die Botschaft des (Deutero-) Jesaja an: „Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheißt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König“ (Jes 52,7). So ist naheliegend, dass sich Jesus selbst in dieser Tradition als der „endzeitliche Bote“ verstanden hat, dessen Auftreten die Königsherrschaft Gottes anzeigt und herbeiführt.

Der Anbruch der „Königsherrschaft Gottes“ ist die Zusage unverdienter Gnade. Gleichzeitig stellt sie alle bisher geltenden Regeln auf den Kopf. Sie ist eine ständige Provokation – vor allem für die Frommen, Gerechten und Gesetzestreuen. Die wütende Ablehnung, die Jesus gerade bei der religiösen und gesellschaftlichen Elite seiner Zeit damit hervorruft, wird zusätzlich dadurch gesteigert,  dass Jesus aus dem Bewusstsein einer besonderen Gottesnähe handelt und für sein Wirken die Autorität Gottes in Anspruch nimmt.

In der nachösterlichen Verkündigung wird aus der Botschaft Jesu vom Reich Gottes die Botschaft vom „Menschensohn“ (so vor allem in der Logienquelle) bzw. vom „erhöhten Herrn“, der als Retter und Richter das Ende dieser Weltzeit herbeiführen und das Reich Gottes in Macht vollenden wird. Der Glaube an die Gegenwart der angebrochenen Gottesherrschaft wird so zum Glauben an Jesus, der als „der Christus“ das Reich Gottes repräsentiert. Die Verzögerung der Wiederkunft Jesu führt schließlich dazu, dass das Reich Gottes als „Himmelreich“ immer stärker als das „ewige Leben bei Gott“ verstanden wird, das Jesus den Gläubigen zugänglich gemacht hat.

Das Evangelium vom „Reich Gottes“

Gleichnisse stellen eine bevorzugte Form der Verkündigung Jesu dar. Um sie zu verstehen, geht es nicht darum, möglichst viele der erzählten Sachverhalte in ein Deutungsmuster zu bringen. Ihr Sinn erschließt sich vielmehr aus einem zentralen Vergleichspunkt, der ein neues Licht auf die damit angesprochene Wirklichkeit wirft.


Da Jesus davon ausgeht, dass das Reich Gottes schon im Augenblick wirksam ist, dort aber erst entdeckt werden muss, sind die Gleichnisse oft im Alltäglich-Bekannten angesiedelt und entwickeln dort im Kontrast dazu ihre eigentliche Aussage. Dieses „provokative Element“, das oft durch die redaktionelle Interpretation in den Evangelien und der traditionellen Lesart umgedeutet wird, bietet als Kriterium die Chance dafür, der ursprünglichen Brisanz der Reich-Gottes-Botschaft auf die Spur zu kommen.

Das Reich Gottes ist „mitten unter euch“ (vgl. Lk 17,21)

In dieser Perspektive zeigt sich z.B. beim „Gleichnis vom Sämann“ (Mk 4,3ff par), dass es dabei nicht um eine Betrachtung Jesu über den wechselhaften Erfolg seiner Predigt geht. Der „Sämann“ steht dabei gar nicht im Mittelpunkt. Ursprünglich ist es vielmehr das „Gleichnis vom Saatgut, das eine gute Ernte garantiert“. Unter den kargen Bedingungen Palästinas ist der leichtsinnige Umgang des Sämanns mit dem Saatgut ein empörendes Ärgernis. Wer sich aber auf das Reich Gottes einlässt – so die eigentliche Aussageabsicht – muss nicht ängstlich und nicht kleinlich sein, der kann „aus dem Vollen“ säen und darf vertrauen, dass die Ernte dennoch seine Erwartungen übertreffen wird.

Auf die „göttliche Eigendynamik“ der Gottesherrschaft zielen dann auch die Gleichnisse von der „selbst wachsenden Saat“ (Mk 4,26 ff) bzw. die Gleichnisse, die am Beispiel unscheinbarer Anfänge die Entwicklung zur vollen Größe und Entfaltung darstellen (vgl. Mk 4,30ff et.al). Gleichzeitig kommt damit auch die endzeitliche Perspektive der Gottesherrschaft in den Blick: Das Reich Gottes ist schon jetzt die wirksame Präsenz Gottes in der Welt, und das nah bevorstehende Ende der Zeit wird die Gegenwart Gottes in der Welt offensichtlich machen und die neue Welt Gottes herbeiführen.

Für Jesus ist jetzt die Zeit der Entscheidung. Jetzt kann alles gewonnen oder verspielt werden. Das Reich Gottes fordert zu Zustimmung oder Widerstand heraus. Und da es nicht einfach auf der Hand liegt, dieser Botschaft zu vertrauen, und da sie sich nicht aus der „Alltagsvernunft“ herleiten lässt, bedeutet es ein gewisses Wagnis, sich darauf einzulassen.

Dass das Reich Gottes jedes Wagnis wert ist, sollen etwa die Gleichnisse vom „Schatz im Acker“ (Mt 13,44) und von der „kostbaren Perle“ (Mt 13,44 f) verdeutlichen. Das Gleichnis vom „verlorenen Schaf“ will zur Bereitschaft hinführen, sich voll und ganz auf das Reich Gottes einzulassen. In der Version bei Matthäus wird ein harmloses „Was meint ihr?“ an den Anfang gestellt, um dann mit der Einleitungsfrage direkt zur Sache zu kommen: „Wenn jemand hundert Schafe hat und eines von ihnen sich verirrt, lässt er dann nicht neunundneunzig auf den Bergen zurück und sucht das verirrte?“ (vgl. Mt 18,12). – Anders als diese Frage unterstellt, ist ein solches Verhalten überhaupt nicht selbstverständlich. Man wird die Herde zumindest erst in ein sicheres Gehege bringen, man wird jemanden suchen, der in der Zwischenzeit die Tiere hütet oder man bleibt selbst bei der Herde und schickt einen anderen, der das eine Schaf suchen soll. Wenn es aber gar keine Überlegung braucht, die Herde sich selbst zu überlassen und sich sofort und ohne Rücksicht auf Verluste auf die Suche zu machen: Wie unvergleichlich wertvoll muss dann dieses eine Schaf sein – so unvergleichlich wertvoll wie das Reich Gottes, für das es sich lohnt, alles andere aufzugeben.

Die „neue Welt“ des Gottesreichs

Nach der Überzeugung Jesu ist eine radikale „Umkehr“ erforderlich, ein „Bekehrungserlebnis“, das den Menschen verändert, um der Wirksamkeit der Gottesherrschaft auf die Spur zu kommen. In seinen Gleichnissen verfremdet Jesus aus dem Alltag bekannte Sachverhalte, stellt gewohnte Urteile und Zusammenhänge in Frage und konfrontiert so seine Zuhörer mit der „anderen Welt“ der Gottesherrschaft. Er zielt darauf ab, dass den Hörern „die Augen aufgehen“ und will so eine Ahnung davon vermitteln, wie die Welt für den aussieht, der sich zum Reich Gottes bekehrt hat.

So wird im Gleichnis von den „Arbeitern im Weinberg“ (Mt 20,1-16) gezeigt, dass es im Hinblick auf das Reich Gottes nicht um „Gerechtigkeit“ geht: Wer Kosten und Nutzen abwägt, Einsatz und Gewinn berechnet, hat vom Reich Gottes nichts verstanden.  Wer erfahren hat, was das Reich Gottes bedeutet, der muss keine Sorge mehr haben, dass er im Vergleich mit anderen zu kurz kommt; der hat es auch nicht mehr nötig, seine Verdienste, Frömmigkeitsleistungen und Erfolge aufzuzählen, um dafür den angemessenen Lohn zu bekommen:  Wer das Reich Gottes „besitzt“ hat mehr als er je „verdienen“ könnte.

Die Bereitschaft zu einem gewissen Wagnis wird dann auch als Nachweis gesehen, ob  die handelnden Personen im Einklang mit dem Reich Gottes stehen. Im Gleichnis vom „anvertrauten Geld“ (Mt 25,14ff par) wird Risikofreude belohnt und ängstliche Sorge bestraft. Und im „Gleichnis von den beiden Söhnen“ (Lk 15, 11-32) gilt argwöhnisches Vergleichen und Aufrechnen als Indiz für die fehlende Nähe zur Gottesherrschaft. Freudlose Pflichterfüllung steht demnach viel stärker in der Gefahr, von Gottes Wirken wegzuführen als die beherzte Suche nach tatsächlicher Lebendigkeit – auch um den Preis des möglichen Scheiterns und Schuldigwerdens.

Theologische Folgerungen

Für Jesus beginnt der Glaube mit dem Vertrauen: Von Gott ohne Vorbedingungen angenommen ist der Mensch dazu aufgerufen, aus der Zusage der Nähe Gottes sein Leben zu wagen. Als „Reich Gottes“ ist diese Nähe ein schon jetzt wirksames „Potential“, eine „Bewegung“ mitten in der Welt, die auf ein überzeitliches und universales Heil zielt. An dieser Überzeugung hält Jesus gegen alle Widerstände fest. Die Ostererfahrung der Jünger/innen hat dann auch die Bedeutung, dass Gott Jesus „aus dem Tod herausholt“ und sich mit ihm und seiner Botschaft identifiziert.  – Von daher kommt der Reich-Gottes -Botschaft eine zentrale Bedeutung zu. Sie ist „die Brücke“, die vom historischen Jesus zum Christus des Glaubens führt. Das Christus-Bekenntnis der Kirche ist fundamental der Reich-Gottes-Botschaft Jesu verpflichtet, und die Kirche ist Kirche Christi vor allem in dem Maß, in dem sich sie sich an dieser Botschaft orientiert: Ihrer „Vorläufigkeit“ bewusst – weil sie nicht selbst das vollendete Reich Gottes ist – hat sie den Auftrag, Erfahrungen mit der Anwesenheit Gottes mitten in der Welt zu ermöglichen. In christlichen Gemeinden geschieht dies vor allem dann, wenn sie sich nicht in erster Linie über ein geschlossenes Weltbild definieren, sondern durch die gemeinsame Grundannahme, dass die Zukunft Gottes alles menschliche Regeln, Absichern, und Beurteilen übersteigt; wenn sie die Überzeugung teilen, dass die Zukunft Gottes, die jetzt schon gegenwärtig ist, engstirniges Machtstreben verbietet und eine Vielfalt an Ausdrucks- und Lebensformen erfordert. Die Offenheit für die Zukunft Gottes braucht keine unabänderlichen Strukturen; sie macht ermutigende Erfahrungen möglich, um sich in ehrlichem Bemühen, aufrichtigem Engagement und Einsatz für die Würde jedes Menschen „selbst zu verlieren“ und  sich so als Kirche Jesu Christi neu zu finden.

Exkurs: Wie hat Jesus seinen Tod verstanden?

Der Tod Jesu am Kreuz war für seine Jünger/innen eine Katastrophe, wie sie schmählicher und endgültiger nicht hätte sein können. Es hatten sich ja nicht nur die Gegner durchgesetzt, die sein Auftreten als gotteslästerliche Provokation bekämpft haben; vielmehr war auch die Hilfe des Gottes ausgeblieben, dem sich Jesus so untrennbar verbunden gesehen hat. Verstärkt wird der Anschein des völligen Scheiterns, wenn man den Tod Jesu im Zusammenhang mit dem Urteil in Deuteronomium 21, 23 bringt: „Von Gott verflucht ist, wer am Holz hängt“.

Ohne die Ostererfahrung ist es nicht zu erklären, dass die Jesus-Bewegung mit diesem Scheitern nicht am Ende war. Stattdessen entsteht eine Vielzahl von Deutungen, die den Versuch unternehmen, den Kreuzestod Jesu theologisch einzuordnen. Wenn Paulus den Tod Jesu als Heilsgeschehen im Sinn von „stellvertretender Sühne“, „Erlösung“ und „Stiftung des Neuen Bundes“ interpretiert, greift er dabei auf „geprägte Wendungen“ zurück, die in der urchristlichen Glaubensunterweisung und im Gottesdienst der frühen Gemeinden verwendet werden. Es bleibt dabei aber die Frage offen, welche Grundlage diese Aussagen im Hinblick auf den historischen Jesus haben.

Sicher war Jesus bereit, für seine Botschaft und im Vertrauen auf die Nähe seines Gottes den Tod auf sich zu nehmen. Die Todesprophetie: „Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes“ (Mk 14,15, Mt Par) stellt – wenn auch in Verbindung zur Abendmahlsfeier der nachösterlichen Gemeinde – den Zusammenhang her zu seiner Verkündigung und zu den Gastmählern Jesu, die für Sünder und Gerechte die Zukunft Gottes gegenwärtig werden ließen.

Auch die mit der Abendmahls Tradition verbundene Vorstellung vom Sterben Jesu „für euch“ beziehungsweise „für die vielen“ verweist auf Erfahrungen mit dem vorösterlichen Jesus: Sein Eintreten für die Armen und Geächteten, sein Beharren darauf, dass die Wirklichkeit Gottes alle menschlichen Maßstäbe auf den Kopf stellt, seine Überzeugung, dass Leid und Tod nicht das letzte Wort haben, befähigt ihn dazu, dem Reich Gottes noch in seiner Todesbereitschaft Geltung zu verschaffen und „für die vielen“ Zeugnis abzulegen bis zur äußersten Konsequenz.

Weniger plausibel erscheint dagegen die Annahme, Jesus habe seinen Tod als „stellvertretende Sühne“ verstanden. Beim Wort vom „Lösegeld“ (vgl. Mk 10,45 par) handelt es sich um eine freie Umformung eines Jesaja-Motivs (vgl. Jes 53,11), das Markus in der palästinischen Tradition vorgefunden hat. Dennoch legt eine parallele Formulierung im ersten Brief an Timotheus (1 Tim 2,6) den Schluss nahe, dass es sich dabei zwar um eine alte Tradition, aber dennoch um eine Aussage handelt, die der frühen Gemeinde zuzuordnen ist.

4.1 Jesus verkündete das Reich Gottes – gekommen ist die Kirche“

Auf den ersten Blick erscheint das Zitat von Alfred Loisy (1857-1940) beinahe zynisch. Seine Absicht war aber eine ganz andere. Er wollte der kirchlichen Hierarchie seiner Zeit, die von den Ergebnissen der historisch-kritischen Exegese aufgeschreckt war, signalisieren: Es gibt einen Weg, der vom „historischen Jesus“ zum „Christus des Glaubens“ und damit auch zu kirchlichen Strukturen führt – und diesen Weg stellt die ursprüngliche Botschaft von der Gottesherrschaft dar. Sein Versuch, historische Bibelwissenschaft mit der Glaubensverkündigung des Lehramtes zu versöhnen, trug ihm 1908 die Exkommunikation ein.

Im Abwehrkampf, den die römische Kirche gegen „Modernismus und Liberalismus“ bis ins 20. Jahrhundert hinein führte, mussten auch die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Betrachtung der Bibel entschieden verurteilt werden. Es ging um nichts weniger als um das Fundament einer durch die Jahrhunderte gelehrten Tradition – und der damit verbundenen Macht- und Vorrangstellung. Noch heute besteht – trotz aller Reformen, die vor allem das II. Vatikanum gebracht hat – eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der offiziellen Dogmatik und einer kirchlich engagierten Exegese.

Dabei ist es für die historische Betrachtung eindeutig, dass Jesus keine „neue Religion“ gründen wollte, keine Lehrsätze und Definitionen formuliert hat und dass ihm das „richtige Leben“ und das „richtige Tun“ weit wichtiger war als jede noch so „fromme“ Doktrin.

Soziale Strukturen, die sich auf Jesus berufen, haben ihre Berechtigung darin, dass Jesus in seiner Botschaft den Schlüssel für ein befreites Leben und eine neue Art der Gemeinschaft gesehen hat. „Bei euch aber soll es nicht so sein“ (Mk 10.34 par) heißt es da im Vergleich zu einer Welt der Macht und der Ungerechtigkeit. Da diese Welt aber immer wieder ihren Einfluss geltend macht, steht diese Geneinschaft immer unter dem Vorbehalt des Vorläufigen, Unfertigen und Improvisierten. Die Kirche, die der Botschaft Jesu entspricht, definiert sich nicht durch eine „Lehre“, die ewig und unveränderlich feststeht und zu Abgrenzung und Ausgrenzung verwendet wird. Es geht nicht um den „Besitz“ der Wahrheit, sondern darum, der Wahrheit der Gottesherrschaft immer wieder neu auf die Spur zu kommen; es geht nicht um „heilige Strukturen“, sondern um das Experiment, wie sich befreiende Erfahrungen gemeinsam leben lassen. Es geht nicht um Rituale, die aus sich heraus – und wenn sie nur nach den Regeln ausgeführt werden – Heil und Gnade als objektive Tatsache behaupten, sondern um Formen der Bestärkung und Vergewisserung. – Eine Kirche, die der Botschaft Jesu entspricht, legitimiert sich nicht durch ein postuliertes – und historisch fragwürdiges – „Gründungsereignis“, sondern durch eine gelebte Wahrheit, die der Botschaft Jesu Raum schafft und es ihr ermöglicht, gegenwärtig zu werden.

Der historische Jesus und die Glaubenskrise


4. Eine Dogmatik der Freiheit?

Im Vorfeld des II. Vatikanums hat Joseph Ratzinger ein Konzept vorgelegt, das eine große Offenheit im Umgang mit der kirchlichen Tradition ermöglichen,  aber auch für eine Ausweitung der lehramtlichen Autorität genutzt werden kann. Seine Argumentation geht davon aus, dass die Offenbarung kein abgeschlossener Vorgang ist, sondern sich immer wieder neu ereignet. Gott teilt sich dem Menschen jeweils neu mit und wenn der Mensch sich für diese Mitteilung öffnet, ereignet sich Offenbarung. Dieser Prozess vollzieht sich präsentisch und ist auf die Zukunft hin offen. Die Kirche darf daher nicht nur an den Formeln der Vergangenheit festhalten. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, im Heiligen Geist, der in ihr wirksam ist, ständig darum zu ringen, wie sich die „Begegnung mit Gott in der Kirche und durch die Kirche adäquat verbalisieren lässt“. Schrift und Tradition sind nicht selbst die Offenbarung, sondern deren Bezugsrahmen. Und wie die Schrift aus der Perspektive der kirchlichen Lehre zu lesen ist, so darf es die kirchliche Lehre nicht ignorieren, wenn sich das Verständnis der Schrift ändert. 

Dieser Ansatz könnte tatsächlich die kirchliche Dogmatik verändern. Die Kirche lebt dann nicht aus einer vorgegebenen Ordnungs- und Autoritätsstruktur, sondern aus der Glaubenskompetenz jedes einzelnen. Der „Glaubenssinn der Gläubigen“ darf dann nicht mehr einfach mit der lehramtlichen Linie in eines gesetzt werden, sondern wird als Anfrage, Herausforderung und Veränderungsimpuls ernst genommen. Und nicht zuletzt kann die Botschaft des historischen Jesus wieder ihre ursprüngliche Brisanz entfalten.

In der Folge wurde aber dieses Konzept dafür verwendet,  die lehramtliche Autorität über die bisherigen Definitionen hinaus auszuweiten: Im Unterschied zum Dogmenverständnis der beiden vatikanischen Konzilien fällt – laut KKK – nun in die Deutungshoheit der Kirche nicht nur das, was  „in Schrift und Überlieferung“ enthalten ist, sondern darüber hinaus auch  „solche Wahrheiten“, die mit der göttlichen Offenbarung „in einem notwendigen Zusammenhang stehen“ (KKK 88). Den „notwendigen Zusammenhang“ ermittelt die Kirche „im lebendigen Ringen“ und legt diese Wahrheiten – auch wenn sie nicht „in Schrift und Überlieferung“ enthalten sind – dem christliche Volk zu einer „unwiderruflichen Glaubenszustimmung“ verpflichtend vor (1).

Aber auch wenn diese Überlegungen im KKK wieder der Sicherung und Verteidigung kirchlicher Lehrautorität dienen, so sprechen die vorgebrachten Argumente doch viel stärker für eine Kirche, die nicht zwanghaft an sich selbst festhält, sondern sich der Zukunft Gottes anvertraut. Ratzingers Entwurf hat tatsächlich das Potential, der Dogmatik ihren „Zwangscharakter“ zu nehmen, den Ton der Anordnungen und Verurteilungen abzulegen und auf die Offenbarung zu hören, die sich dannn ereignet, wenn sich der einzelne dem Anruf Gottes öffnet.

(1) vgl. Michael Seewald, Dogma im Wandel, Freiburg 2018, S. 247ff

3. „Es ist fest zu glauben, dass …“

Schon bei seinem Erscheinen war der  „Katechismus der Katholischen Kirche“ ein fragwürdiges Projekt: Die verbindliche katholische Lehre sollte in einer allgemein gültigen Form zusammengefasst und – da durch die Approbation zum „ordentlichen Lehramt“ gehörend – den Gläubigen mit der Pflicht zu „religiösem Gehorsam des Willens und des Verstandes“ (263) vorgelegt werden. Da formal für den Unterricht und zur Unterweisung gedacht, schwankt die Tonlage zwischen der Redeweise eines allwissenden Erzählens, einer gütigen Ermahnung und der autoritären Haltung strengen Belehrens.

Die undifferenzierten Verweise auf Bibelstellen, Kirchenväter und lehramtliche Dokumente
macht den „KKK“ zu einem Sammelwerk  dogmengeschichtlich bedeutender Zitate – und relativiert dadurch die Bedeutung biblischer Texte, die geschichtliche Einordnung dogmatischer Aussagen und die neuen Akzente, die das II. Vatikanum gesetzt hat.

Mit diesen Strategien wird der Dialog mit der wissenschaftlichen Theologie und die
Auseinandersetzung mit den Fragen der Gegenwart verweigert und stattdessen der
Anspruch des kirchlichen Lehramtes bekräftigt, nicht nur für fundamentale Glaubenswahrheiten, sondern für jedes Details der Glaubens- und Sittenlehre festzulegen,  was „zu glauben ist“.


Dabei dienen gerade die Aussagen der Kirchenväter dazu, manche „Zugeständnisse“
wieder zu relativieren. So wird etwa – mit Bezug auf DV – eingeräumt, dass für das richtige Verständnis der biblischen Texte die „Verhältnisse ihrer Zeit und Kultur“ und „ die zu der betreffenden Zeitüblichen literarischen Gattungen und die damals geläufigen Denk-, Sprech- und Erzählformen zu berücksichtigen“ sind (65). Mehr Platz nimmt aber die Ermahnungen zur Sorgfalt ein, zu einer Auslegung „in der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche“ und zur Berücksichtigung der „Analogie des Glaubens“ (S.66) – und mit einem Augustinus-Zitat werden dann die Grenzen der biblischen Exegese klar gemacht:   „Ich würde selbst dem Evangelium keinen Glauben schenken, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewöge“ (Aug, fund.5,6)   S. 67

Ganz allgemein nimmt die Lehre von der Kirche breiten Raum ein. Hier gibt ein Zitat aus
dem „Hirten des Hermas“ die Richtung vor: „Die Welt wurde auf die Kirche hin erschaffen“
(229). Die Kirche hat ihren Ursprung im „Ratschluss der heiligsten Dreifaltigkeit“. Und im Anschluss an LG2 wird ausgeführt, dass sie vorausgestaltet wurde seit dem Ursprung der Welt, vorbereitet in der Geschichte Israels, in den letzten Zeiten gegründet, durch die Ausgießung des Geistes offenbart und vollendet wird in Herrlichkeit am Ende der Zeiten. Wäre dies als „theologische Mediation“ noch akzeptabel, so wird diese Argumentation dann brisant, wenn die „von allem Anfang bestehende Kirche“ kurzer Hand mit der römisch-katholischen Kirche gleichgesetzt wird und daraus absolute heilsnotwendige, hierarchische und rechtliche Folgerungen gezogen werden.

2. Die Lehre der Kirche und die „Tradition“ der Gewalt


Es galt als historisches Ereignis: Im März des „Heiligen Jahres 2000“ bittet Johannes Paul II. um Vergebung dafür, dass „Menschen in der Kirche“ schuldig geworden sind.

Vorausgegangen waren kontroverse Diskussionen: Wie kann die Kirche um Vergebung bitten, ohne ihren Wahrheitsanspruch in Frage zu stellen und ihr moralisches Gewicht zu gefährden? Eine internationale Theologenkommission hat daraufhin ein 40-seitigen Grundsatzpapier („Erinnern und Versöhnen“) erstellt und festgelegt, warum und in welcher Form die Kirche um Vergebung für vergangene Verfehlungen bitten kann. Schließlich gab auch Kardinal Ratzinger seine Zustimmung: Es gehe nicht um ein „Tribunal über die Sünden der Vergangenheit“, sondern um Bekehrung für die heutigen Christen. Dabei müsse neben der „objektiven Schuld auch das viele Gute gesehen werden, das Gott durch die Kirche in 2.000 Jahren gewirkt hat“.

Die „Schuldbekenntnisse“ sind dann auch zwiespältig genug ausgefallen. So lautet das „Bekenntnis zur Schuld im Dienst der Wahrheit“, das sinnigerweise Joseph Ratzinger vorgetragen hat: „Lass jeden von uns zur Einsicht gelangen, dass auch Menschen der Kirche im Namen des Glaubens und der Moral in ihrem notwendigen Einsatz zum Schutz der Wahrheit mitunter auf Methoden zurückgegriffen haben, die dem Evangelium nicht entsprechen“.

Diese fast schon dreiste Verharmlosung setzt sich bedenkenlos darüber hinweg, dass zur Geschichte des Christentums auch eine Tradition der Intoleranz und der Gewalt gehört – und dass die Ursache hierfür nicht nur in der Schuld einiger „Menschen der Kirche“ liegt, sondern in einer lehramtlichen „Theologie“, die solches Handeln begründet und legitimiert hat. Während sich die „Methoden“ zum „Schutz der Wahrheit“ geändert haben, bestehen die dogmatischen Grundlagen – wenn man sie aus der traditionellen Perspektive betrachtet – nach wie vor weiter.

Einleitung

Ist die Kirche noch zu retten?
Der historische Jesus und die Glaubenskrise

Im Frühjahr 1993 erschien „weltweit“ der von Johannes Paul II. approbierte
„Katechismus der katholischen Kirche“. In konzentrierter Form soll er alles
zusammenfassen, was zur „sicheren Norm des Glaubens“ gehört.

Ganz abgesehen davon, dass der „Weltkatechismus“ in Form, Sprache und Anspruch die relative Offenheit der Theologie nach dem II. Vatikanischen Konzil faktisch widerruft, so geht es darin zentral um die Kirche als dem Mittelpunkt der Glaubens- und Sittenlehre … Der historische Jesus wird dabei völlig ausgeblendet und ignoriert, obwohl die Bibelwissenschaft schon im 19. Jahrhundert gezeigt hat, dass sich die geschichtliche Situation seines Wirkens und die Grundzüge seiner Botschaft aus den Evangelien sehr konkret erschließen lassen. – Die Begründung lautet: „vieles, was menschliche Wissbegierde von Jesus erfahren möchte“ findet sich in den Evangelien nicht (161ff) und ohnehin sei das gesamte Leben Jesu ein „Mysterium“.

Wenn die „Menschwerdung Gottes“ theologisch ernst genommen werden soll, dann darf die geschichtliche Existenz Jesu nicht übergangen werden. Den „Christus des Glaubens“ kann es nicht ohne den „historischen Jesus“ geben – und er darf auch nicht mit dem Verweis auf sein „Mysterium“ faktisch als „Vorstufe“ der späteren Glaubenslehre abgetan werden.
Mit gleichem Recht gehört auch der Entstehungsprozess der neutestamentlichen Schriften, der das Leben und Sterben Jesu auf verschiedenen Traditionsstufen, in vielfältigen Deutungsmustern  und mit unterschiedlichen Akzenten formuliert, zur „Überlieferung“ des christlichen Glaubens und hat theologische Bedeutung.

Vor allem seit dem 19. Jahrhundert leidet die Glaubwürdigkeit der Kirche daran, dass die Geschichtlichkeit des Christentums nur in der Weise wahrgenommen werden darf, dass dadurch die „herrschende Dogmatik“ verteidigt und die bestehenden Strukturen stabilisiert werden. Dabei käme es gerade jetzt darauf an, das „geschlossene System“ einer Weltanschauung, die alles weiß und alles erklärt und allzu oft den Eindruck erweckt, nur um sich selbst besorgt zu sein, von der Botschaft Jesu „sprengen“ zu lassen. Der ursprünglichen Botschaft Jesu geht es nicht um Glaubensformeln und abstrakte Wahrheiten, sondern um einen Gott, der bedingungslos auf der Seite der Menschen steht, und der durch seine voraussetzungslose Liebe den Maßstab dafür bietet, wie Menschen einander begegnen sollen.